Julius Bomholt: Længsel (1944)
Selbst die diversen Internetlexika scheinen Julius Bomholts ersten und zweibändigen Roman „Længsel“ („Sehnsucht“) vergessen zu haben – man erinnert ihn als bedeutenden sozialdemokratischen Politiker, als langjährigen Kulturminister, als ausgebildeten Theologen, als Højskole-Vorsitzenden, als literarischen Rezensenten von Einfluss, auch als Literaturtheoretiker oder Biografen und sogar als Romancier, sein Erstlingswerk jedoch scheint unter all dem verloren gegangen zu sein. Aber gerade dieser voluminöse Roman stellt die künstlerisch stärkste Verbindung Bomholt-Kirk dar.
Sicher, man kannte sich aus gemeinsamer journalistischer Tätigkeit schon in den 30er Jahren, doch währte die enge Zusammenarbeit nur kurz, denn Bomholts „grundtvigianischer Sozialismus“[1] war für Kirk bald unakzeptabel, so dass die Kooperation schnell ein Ende hatte. Das hinderte Bomholt nicht daran, sich immer wieder aufs Neue kritisch mit der Theorie des kollektiven Romans zu beschäftigen, zum „Kollektivromangenres Fürsprecher Nummer Eins“[2] zu werden und sich selbst am Genre zu versuchen, in ebenjenem heute vergessenen Roman „Længsel“. „Die Geschichte eines Dorfes“ lautet der programmatische Untertitel des Buches; in ihm wechselt der Erzähler kapitelweise von einer Person zur anderen, die meisten davon sind Kinder, Enkel oder Verwandte des alten Handwerkerpaares Anders und Ane. Sie verkörpern die alte Welt des einfachen, in vorgegebenen Strukturen aufgehenden, aber auch des schweren Lebens. Jeder stellt einen Typus dar und obgleich Bomholt seinen Personen sehr tiefe psychologische Einsichten in den Mund legt, die auch dem heutigen Leser noch die Augen öffnen können, so missbraucht er die Figuren doch allzu deutlich als Sprachrohre ihrer Funktion und leimt die Teile zu grob zusammen, als dass dieser Roman mit den organischen Kollektivromanen Kirks künstlerisch mithalten könnte. Auch sind die Anleihen bei Hamsun – dem fast die gesamte skandinavische Literatur zu danken hat – unübersehbar, etwa in der Leitmotivtechnik aber auch in der Grundspannung: Das Leben im Angesicht der Endlichkeit: Es wird viel und ganz unterschiedlich gestorben bei Bomholt.
Auch die thematischen Anleihen beim Kirk der drei Kollektivromane sind nicht zu übersehen: Da gibt es, neben der Kollektivromantechnik, den Konflikt zwischen Innerer Mission und Folkekirke, die Divergenz zwischen Stadt und Land, zwischen Fabrikarbeit und Landwirtschaft, die sozialen Veränderungen durch Fortschritt und Industrie, da gibt es die Gründung einer Gewerkschaft und entsprechende Führergestalten (vgl. Cilius) ebenso wie die dagegenhaltenden konservativen Bauern, ja, da gibt es sogar im Zentrum der Handlung, wie in „De ny tider“, einen Streik. Dort, am Streikgeschehen wird freilich der Unterschied zu Kirk am deutlichsten, so deutlich, dass sich das Buch spätestens hier, aber ganz ausdrücklich, als Gegenentwurf zu Kirks Romanen preisgibt. Während bei diesem die Arbeiterschaft nach langem hartem Kampf triumphiert, endet Bomholts Streik – menschlich vermutlich sogar viel realistischer – in einem kleinlichen Kompromiss zwischen Bauer und Gesinde und der verkappte Cilius-Typ Søren scheitert mit seinen intriganten Ideen und wird sogar, angesichts des „Das Hemd ist einem näher als der Rock“, zum sinnlosen Wutzerstörer. „Hvis en fattig Mand vilde fri af Rebene, maate han hugge sig fri. Han maate slaa og ikke saa meget blinke, naar Modsalget kom. Men Menneske var fejge. Den lille Kartoffelhave spillede en større Rolle for dem end selve Friheden.” (2/184)
Bomholts Botschaft ist letztlich gar keine primär politische, sondern eine metaphysische, eine theologische, wenn man so will. Es ist die innere Sehnsucht der Menschen nach Sinn und Erfüllung. In immer neuen Anläufen, individuell gefärbt, entwirft er eine antinomische Welt von Theorie und Praxis, Ideal und Verwirklichung, Idee und Realität, letztlich das Große und das Kleine. Da ist der Pfarrer, der keine Seelenruhe findet, nach dem System und dem großen Zusammenhang sucht, aber die momentane Schönheit einer Rose – „Du willst so viel und gönnst dir nicht die Zeit, dich mit den kleinen Dingen anzufreunden … Wie schön ist es doch, dass die kleinen Dinge uns Freude schenken – ohne alle Erläuterung und Metaphsik” (2/209) – nicht sehen kann, da ist Markus, der in der absoluten Hingabe in der Inneren Mission sein Heil zu finden scheint, dabei aber durch Liebesunfähigkeit und Unaufmerksamkeit drei Menschenleben – die Geliebte, die Frau, das Kind – auf dem Gewissen hat, da ist Søren, der Aufwiegler, der seine innere Unruhe, die Suche nach seiner Rolle im Großenganzen in Destruktivität übersetzt, da ist der junge Ejvind, der zwischen zielgebender Arbeiter- und von der Hand in den Mund lebender Bauernklasse schwankt und sich für erstere entscheidet –„Nein, es musste für etwas noch Größeres gekämpft werden“ (2/217) –, und da ist sogar der alte Anders – noch den naturgeordneten Zuständen am nächsten stehend –, der sich in kleinliche Alltagssorgen verrennt und dabei das Leben zu verpassen meint: „Was bedeuten schon die täglichen Sorgen und Ängste gegenüber dem Heiligen, das Leben und Tod heißt?“ (2/200). Sie alle fühlen, was eine Person ausspricht: „Was nützt das Viele, wenn es am Eigentlichen fehlt“ (1/56). Ganz im Gegensatz zu Kirk scheut Bomholt die Beantwortung der Frage, was „das Eigentliche“ sei und wie es zu erreichen wäre. Damit, in dieser Unentschiedenheit, trifft der durchaus lesenswerte Roman 60 Jahre nach seinem Erscheinen überraschenderweise noch einmal den Nerv des Lesers.
Literatur:
Julius Bomholt: Længsel. En historie om en landsby. 2 Bände. Gyldendal. København1944. 338/233 Seiten
Finn Klysner: Den danske kollektivroman 1928 – 1944. Vinten. København 1976
Thing, Morten: Hans Kirks mange ansigter. En biografi. Gyldendal. København 1997.
©Text und Übersetzungen Jörg Seidel