Das Reich der Toten
Es schmerzt immer ein wenig, wenn man die letzte Seite eines großen Romans umschlägt. Dann heißt es Abschied nehmen – umso betrüblicher, wenn die lieb gewordenen oder nahe gekommenen Helden zudem noch sterben. Aber daran erkennt man auch ein Meisterwerk: daß man sitzen bleibt, betroffen, grübelnd, für eine Weile herausgerissen aus dem Weltbetrieb, aus allem, was man noch machen müßte.
Es gibt noch ein weiteres sicheres Indiz, ein Buch von Rang in der Hand zu haben: Man hat das Bedürfnis, es gleich noch einmal zu lesen, denn man ahnt, daß viele Zusammenhänge sich erst post mortem erschließen, denn bedeutende Schriftsteller arbeiten oft mit lang und weit ausgelegten, komplex verknoteten Fäden, die zu verwirrend sind, um sie alle bei der Erstlektüre erfassen zu können. Gut, wenn man sich ein paar Anstreichungen und Anmerkungen gemacht hat, die man nun – in stiller dunkler Stunde – noch einmal durchgehen kann.
So ging es mir mit Henrik Pontoppidans letztem großen Roman. Fast alles, was Pontoppidan angefaßt hatte, wurde zu Gold, aber seine drei großen Romane gehören zum Weltkulturerbe. „De dødes Rige“ („Das Reich der Toten“), zwischen 1912 und 1916 veröffentlicht, in zwei Bänden und acht Büchern, kann zwar nicht mehr an „Lykke Per“ („Hans im Glück“) heranreichen, war vermutlich aber dennoch ausschlaggebend, ihm 1917 den Literaturnobelpreis für sein Gesamtwerk zu verleihen.
Manche sahen in diesem Buch das dunkelste seiner dunklen Werke. Man kann diese Einschätzung verstehen, aber sie ist mir trotzdem zu düster, denn sie verschweigt Pontoppidans subtile Ironie und vor allem die Vielfalt seiner dargestellten Positionen. Freilich, am Ende des Epos sterben fast alle Hauptpersonen, in die der Leser sich hat einfühlen dürfen, und eine – der Gutsverwalter Torben Dihmer, die vielleicht interessanteste Person – hält ein überzeugendes Plädoyer gegen die Hoffnung, und dennoch läßt der Autor die Perspektive offen und setzt helle Lichtmomente als Kontrast.
Die Handlung in einer kurzen Besprechung nachzuerzählen, würde diese überfordern. Es muß daher genügen, die Geschichte von Torben und Jytte anzureißen, die zudem den Rahmen dieses opulenten Werkes bildet. Sie sind beide Kinder der Moderne und eigentlich wie füreinander geschaffen, versuchen auch zusammenzukommen, aber vor allem die junge Frau gehört bereits einer exaltierten, überspannten, überkomplizierten, im Grund geistig-seelisch entwurzelten Generation an, kann sich nicht entscheiden und grübelt sich – wie ihre Mutter das nennt – aus dieser glücklichen Fügung heraus. So stürzt sie beide ins Unglück. Dihmer flieht in eine Weltreise und nach seiner Rückkehr in eine todbringende Krankheit, Jytte schlägt noch manch anderen Verehrer aus und phantasiert sich dann in eine Liebe mit einem Künstler hinein, dessen Rücken sich immer aufrichtet – das ist typisch Pontoppidan – wenn er eine schöne Frau sieht. Als Jytte später – nach kurzem Glück – mit Kind darniederliegt, jagt er bereits wieder Röcke.
Sie sind auch nur zwei eines ganzen Gesellschaftspanoramas, eines Ensembles an Figuren, die fast alle in irgendeiner Beziehung zueinander stehen und breite Schichten der dänischen Gesellschaft symbolisieren. Pontoppidan schuf damit einen Vorläufer des sogenannten „Kollektivromans“, der in der skandinavischen Literatur zahlreiche Vertreter hat und deren Paradebeispiele und Vollendung die Romane Hans Kirks sind.
Die Handelnden entstammen zuvörderst den Sphären der Wissenschaft, der Medizin, der Politik, der Journalistik, der Kirche und der Pädagogik, sie alle wollen heilen, retten, bekehren, leiten und erziehen und fast alle scheitern, die meisten erleben sogar dramatische innere Wendungen, müssen die Irrtümer ihrer Jugend erkennen, um womöglich in neue Irrtümer zu schlittern.
Pontoppidan interessierte die Frage des Übergangs, des Umschlagens von positiven moralischen Werten in Orthodoxie und er exerziert diese Übungen in den verschiedenen Milieus durch.
Am Grund aller Konflikte steht freilich der ewige Kampf zwischen Neuem und Altem, zwischen Moderne und Erhalt. Das sind die Momente, die den Leser auch hundert Jahre danach noch erschüttern, zu sehen, daß aufmerksame Beobachter damals schon jene Konflikte gesehen, beschrieben und analysiert haben, die uns noch heute bewegen und in deren Behandlung wir offensichtlich nicht wesentlich vorangekommen sind, aber auch, daß wir noch immer in die gleichen Fallen tappen, die bereits für unsere Urahnen aufgestellt waren. Vor allem die junge Generation wirkt ohne Halt. Begeistert kämpft sie um alle möglichen Formen der Freiheit und kann doch nicht mit ihr umgehen, scheitert letztlich an den Zwängen der neuen Freiheiten.
Jytte zum Beispiel irrlichtert durch ihr junges Dasein, findet keine innere Ruhe, weiß mit ihrem Leben nichts mehr anzufangen, weil ihr angeboten wurde, selbst zu entscheiden, wer sie sein will, was sie tun möchte. Während ihre einstige Jugendfreundin etwa im traditionellen Muttersein aufgeht und den höchsten Moment im Leben einer Frau in Geburt und im Stillen des Kindes sieht, die geglückte Ehe als das Erreichbare – durchaus desillusioniert, aber realistisch – betrachtet, flackert die befreite Frau durch das Leben, kann kaum normale soziale Kontakte knüpfen, hat Probleme mit ihrer Körperlichkeit und kann schließlich auch ihr Kind nicht freudig annehmen. Ihr irrtümlich gewählter Mann wiederum kann von den Versprechungen des Neuen und des anderen nicht lassen und auch ihr alter Freund Dihmer findet nach seiner Weltreise, wo ihn die „wilde Jagd nach dem eingebildeten Glück“ allerorten abschreckt, keinen Sinn mehr im Leben. Sie alle sind Opfer der Freiheit. Sie alle hätten leben und vielleicht sogar glücklich werden können – und nicht nur sie –, wäre ihnen eine Rolle im Leben (vor)bestimmt gewesen.
Moderne wird bei Pontoppidan als das Zeitalter beschrieben, das die Schmerzlosigkeit, die Erleichterung auf ihre Fahne geschrieben hat, aber gerade die Flucht vor dem Schmerz ist der Garant eines ganz anderen, noch stärkeren Leids.
Aber wie bei aller großen Kunst, kann man dieses Buch sicher auch ganz anders lesen.
Quelle: Henrik Pontoppidan: De Dødes Rige. To Bind. København 1922.
© Text: Jörg Seidel
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