Henri Barbusse: Jesus (1927/28)
Bislang unbemerkt blieb eine weitere gemeinsame Linie, in deren Ausrichtung Kirks Werk liegt. Allerorten wird Barbusse als der Autor von „Das Feuer“ erwähnt, vielleicht auch noch seine politische Tätigkeit, aber dass der ursächlich vom Symbolismus herkommende Autor sich ein Leben lang mit der Gestalt des Religionsgründers befasste, ist weitgehend vergessen. Das Rätsel der Existenz Gottes beschäftigte schon den jungen Barbusse; das Thema nahm er Ende der 20er Jahre noch einmal auf und schuf gleich drei Werke dazu: ein Evangelium, eine theologische Schrift und ein Theaterstück. Vor allem die ersten beiden könnten auf Kirks Schaffen deutlich eingewirkt haben und wenn dem so ist, dann müsste das sich an dessen eigenem Jesus-Roman „Vredens Søn“ nachvollziehen lassen. Allein schon der Fakt, dass beide sich in literarischer Form dem Christus widmen, scheint bedeutsam. Wir wissen, dass der Däne schon als junger Mann das Schaffen des Franzosen intensiv verfolgte und es ist kaum anzunehmen, dass ihm, der Sprache kundig und seit je von den religiösen Fragen gebannt und bibelfest, diese eminenten Werke entgangen sein sollten. Und bedeutend sind diese Arbeiten, auch wenn sie seinerzeit nur wenig Aufsehen erregten und seither vergessen scheinen. Man war und ist offensichtlich verunsichert, von einem als „kommunistisch“ geltenden Intellektuellen, von einem Kriegsschriftsteller, einem Chronisten des Grauens, einen genuinen Beitrag zur religiösen Frage vor sich zu haben.
In „Jesus“ schuf Barbusse ein Jesus-Evangelium, das einige Kritiker mit Nietzsches Zarathustra verglichen hatten. Unterschiedlicher können zwei Texte allerdings nicht sein. Barbusse‘ in der Ich-Perspektive wiedergegebene Autobiografie Jesu kommt gänzlich ohne Pathos aus und will die Religion aus einem anti- und nicht überreligiösen, aus einem primär menschlichen- und nicht übermenschlichen Impuls erklären. Jesus ist ein einfacher Mann mit einfachen, arbeitenden Eltern, freilich sensibel und mit Hang zum Beobachten, Denken und Hinterfragen, der sich der Wahrhaftigkeit verpflichtet fühlt. Ein Gott hat in seinem Weltbild keinen Raum; er enttarnt Gott als menschliche Projektion. Alles geht vom Innen zum Außen: wer an sich glaubt, der kann geheilt werden! Der geheilte Lahme etwa „glaubte, dass ein göttlicher Atem in ihn gekommen sei, während er doch aus ihm gekommen war. Denn er kannte die Richtung der Wahrheit nicht“ (89) Einen personalen Messias kann es daher nicht geben, auch dieser muss ins Innen verlegt werden: „Der Messias ist der Geist und der Geist ist in uns.“ (96) Das ist eine radikale Umwertung der Werte und Worte Jesu, wie wir sie aus der christlichen Tradition kennen. Dabei bedient sich Barbusse immer wieder biblischer, apokrypher und gnostischer Quellen, flicht Originalsequenzen unmerklich ein. Insofern versucht er historisch korrekt zu sein. Einige Male aber verlässt er auch den Boden der Faktizität, am deutlichsten, wenn er das Damaskuserlebnis als direkte Konfrontation von Jesus und Paulus – die sich historisch nicht begegnet sein können – darstellt. Paulus entlarvt sich in diesem Gespräch als eifernder Religionsstifter, der Jesu Botschaft nur verformt und instrumentalisiert zu nutzen weiß. Auch von den Zeloten und ihren spontanen Aktionen distanziert sich Jesus. Als er schließlich das Scheitern seines Kommens begreift, entschließt er sich durch das Selbstopfer dem Prozess des absehbaren Missbrauchs zu entgehen, nur fern ahnend, dass genau dies die Bedingung für den späteren Wiederauferstehungsgedanken werden sollte.
Nicht immer kann das Buch, das einige wunderbare Gedanken und Sätze enthält, künstlerisch überzeugen, an einigen Stellen bleibt es dunkel und vage, an anderen wirkt es hölzern und zusammengefügt, vor allem aber dürfte sich Barbusse darüber im Klaren gewesen sein, dass ein „Evangelium“ aus seiner Feder mehr Verunsicherung als Zustimmung hervorrufen musste. Daher plante er von Anfang an, ihm ein theoretisches Werk an die Seite zu stellen, das „die Dokumente, die Fingerzeige und Gründe“ offenlegt, „die mich geführt haben bei meinem Versuche, in die wirkliche Vergangenheit zurückzugehen und Jesus zu begegnen, dem Menschen, der am göttlichsten Mensch war und der mehr als jeder andere den Menschen verstanden, aufgestellt und gerichtet hat.“ (7) „Die Judasse Jesu“ – das Buch kursiert in der Sekundärliteratur auch unter dem Titel „Die Verräter Jesu“ – ist ein theologisches Schwergewicht und muss bis heute als wesentlicher Beitrag zur Jesuforschung, oder besser Entmythologisierung Jesu, gesehen werden. Wenn man die antiken und biblischen Schriften absucht, dann bleibt von einer realen Jesusgestalt nicht viel übrig. Trotzdem glaubt Barbusse, „dass in der Tat irgendwer gelebt hat, ein recht unbekannter jüdischer Prophet, der lehrte und gekreuzigt wurde.“ (80) Der Jesus in den Evangelien ist ein Kompositum aus dem „Messias des Alten Testaments, des griechisch-syrischen Christ der neuen Religion und dem der reichen wirklichen Person, die eine neue Lehre verkündete und zu der angegebenen Zeit gekreuzigt wurde.“ (95) Nur der letzte Teil hat Realcharakter, aber dieser ist für uns nahezu verschwunden und gehört ausgegraben. Man muss dennoch zwischen der theologischen Kategorie „Christus“ und dem real-existierenden und revolutionären Jesus unterscheiden. „Wer die Evangelien mit loyalem Ernst liest, wird durch hundert Details davon überzeugt, dass die Person, deren Schritten man folgt und deren Echo man nachgeht, alles von einem Menschen und nichts von einem Gott hat.“ (132) Doch dieser Mensch wurde von Paulus und den Aposteln, später vom römischen Staat und der Kirche gekidnappt und entführt. Statt wie Jesus an den eigenen Geist zu glauben, verführen sie die frühe Christengemeinde zum Glauben an Jesus und durch ihn an einen außenstehenden Gott, von dem alles Heil zu erwarten sei. Für Barbusse‘ Jesus ist der Glaube „der Willensakt des Geistes, der definitiv die Wahrhaftigkeit dessen, was der Geist will, bestätigt; er ist das wesentliche Vertrauen in die Ersichtlichkeit, und das überströmende Vertrauen, welches die Kreatur über sich hinaus reißt; die impulsive Gerade vom Innen zum Außen …“ Es ist also der Glaube an sich selbst, der erlöst und heilt oder in Barbusse‘ griffiger Formel: „Der Beter erhört das Gebet.“ (177) Auf gut Deutsch: Sei dir selbst deiner Stärke bewusst. Jesus wird damit zum Begründer, das Neue Testament zum Gründungsdokument, eines sozialen Gewissens überhaupt (vgl. 226). Barbusse betont dabei wiederholt, dass dies kein weltanschaulich motivierter Schluss sei, sondern seine Studien und Überlegungen ihn zu diesem „atheistischen“ Jesus führten und im Übrigen schon lange vor seinen Kriegserlebnissen und damit vor seiner ideologischen und künstlerischen Kehrtwende.
Auf Kirk jedenfalls, der sich parallel dazu ebenfalls mit dem Thema der Religion befasste, mussten diese Gedanken sehr inspirierend wirken. Bis in seine späten Jahre verfolgte er die theologische Diskussion. So schreibt er 1960 etwa, zwei Jahre vor seinem Tode, in einer Besprechung von Johannes Sløks Buch „Kristen moral før og nu“ just vom „Aufrührer und Proletarier“ Jesus, vom „Klassenkämpfer, der die Armen von den Plagen des Reichtums und der Ausbeutung befreien wollte“[1]. Literarisch hatte er einem solchen Jesus in „Vredens Søn“ (1950) ein Denkmal gesetzt. Die Anleihen bei oder Parallelitäten zu Barbusse sind offensichtlich. Bei beiden muss sich Jesus zwischen den aktionistischen Anforderungen der Zeloten und der apostolischen Zumutung der Verherrlichung hindurch lavieren, wobei Kirk im Zeloten Simon die historische Kraft verwirklicht sieht, während er das anarchistische Potential des Berufsverbrechers Gaal ablehnt. Sein Jesus scheitert letztlich ja auch aufgrund seiner eigenen Unentschlossenheit. Kirks Jesus hat den sozialen Aufstand initiiert ohne ihn zu führen, Barbusse‘ Jesus führt ihn, ohne ihn unmittelbar initiiert zu haben, bis zur privaten Endkonsequenz. Die Wesensübereinstimmung zwischen beiden besteht in der Anerkennung des Revolutionärs Jesus, der eben nicht meinte, man solle die andere Wange hinhalten oder dem Kaiser geben, was des Kaisers sei – derartige Aussagen wurden falsch tradiert oder falsch verstanden. Nicht ein vages Liebes-Ideal habe ihm vorgeschwebt, sondern die Gerechtigkeit sei seine höchste Kategorie gewesen. Es mag genügen, einige Zentralaussagen bei Barbusse zu zitieren, um die inhaltliche Nähe aufzuzeigen. Kirk jedenfalls dürfte genickt haben, als er las:
„Im Reich des aktiven Gedankens und der Tat schafft er reines Feld für die persönliche Anstrengung. Er greift die grundsätzliche Ungerechtigkeit des irdischen Reichtums an –, der von außen kommt, wie die willkürliche Herrschaft der Könige. All das ist in der gleichen Richtung gedacht. Die Reform, die er bringt, ist von moralischer, menschlicher und volksmäßiger Ordnung.“ (85)
„… dass der von Jesus verkündete innere Gott eine Vergöttlichung des Menschen ist und dass nichts uns berechtigt anzunehmen, dass er mehr sei. Jesus zeigt sich als einer der saubersten und kategorischsten unter den Denkern, die versucht haben, aus dem Material des Innen und nicht aus dem Material des Außen eine Lehre zu bauen.“ (149)
„Jesus spricht gegen die Reichen, weil der Reichtum etwas Äußeres und auf Ungerechtigkeit gegründet ist. Der Vorzug des Reichseins fällt von oben wie ein Zufall auf die Menschen; er hat nicht die Richtung der Wahrheit, die aus dem einzelnen selbst entspringt. Er zerpflückt die Symmetrie der Gerechtigkeit.“ (199)
„Denn die wahre Bedeutung des Ausspruches: ‚Euer Reich ist nicht von dieser Welt‘ ist weiter und einfacher, als man gemeinhin annimmt; es stellt das, was ist, in den Gegensatz zu dem, was sein sollte. Der Ausspruch will sagen: Diese Welt ist zu eurem Ideal nicht geeignet. Weit davon entfernt ein Befehl zum Verzicht zu sein, ist er vielmehr ein Befehl zum Angriff und zum Kampfe: Ihr könnt euer Reich nicht verwirklichen, wenn ihr die Welt so lasst, wie sie ist; ihr seid entrechtet! Jesus unternimmt das Gericht über die Welt des Anscheins und der Heuchelei. Er legt dem Gläubigen die Pflicht auf, den Widerspruch zwischen der zeitlichen Wirklichkeit und der Wahrheit zu beheben: den Widerspruch zwischen der Welt und dem Himmelreich.“ (207)
„… denn es war vielmehr ein soziales als ein religiöses Werk, was damals die ersten Christen versuchten, indem sie ihren menschlichen, hingeschlachteten Gott über die Erde hoben … Es war sogar ein antireligiöses Werk, das die alte in der alten Ordnung verwurzelte Religion untergrub.“ (301)
„Wie man in der Himmelfahrt des Isajas liest: ‚Der Auserwählte wird aufsteigen, um zu richten und zu vernichten die Fürsten, die Engel und die Götter dieser Welt, die miteinander sich schlagen und sich einander bestehlen, und die Welt, die von ihnen beherrscht ist.‘ Aber der Auserwählte wird weder ein vorbestimmter Mensch sein, noch ein Engel, noch ein auserwähltes Volk, sondern das Volk selbst.“ (326f.)
Sondern das Volk selbst – das ist wortwörtlich die quintessenzielle Aussage von Kirks Jesus-Roman!
Aber es gibt auch mögliche faktische Anleihen, die sich in der klassischen Bibelliteratur nicht finden. Kirk lehnte es zum Beispiel ab, die Juden für die Kreuzigung Jesu verantwortlich zu machen und setzte dafür die Römer ein – ein Gedanke, dessen Kohärenz Barbusse in seiner Studie breit begründet. Oder er konfrontierte Jesus, ähnlich Barbusse, direkt mit den Zeloten und den Essenern. Maria, die Mutter Jesu, wird bei beiden, bei Kirk freilich stärker noch als bei Barbusse, als „almuekvinde“, als gewöhnliche, einfache, abgearbeitete, proletarische Frau und nicht als Immaculata dargestellt. Und schließlich könnte sein besonderes Interesse für die Figur Judas, die notwendig war, durchaus von Barbusse‘ häretischer Einsicht angefeuert worden sein: „Die wahren Verräter Jesu waren nicht der sogenannte Apostel Judas, sondern alle die, welche sich des Titels Apostel bemächtigt haben.“ (180)
Literatur:
Barbusse, Henri: Das Feuer. Tagebuch einer Korporalschaft. Berlin 1967
Barbusse, Henri: Jesus. Leipzig/Wien 1928
Barbusse, Henri: Die Judasse Jesu. Leipzig Wien 1928
Kirk, Hans: Vredens Søn. København 1950
Thing, Morton: Hans Kirks mange ansigter. En biografi. København 1997
Vidal, Annette: Henri Barbusse. Soldat des Friedens. Berlin 1955
©Text Jörg Seidel