Geschichte zweier Bilder
Cover-Designer Nikolaj Gorbashow, ein anerkannter internationaler Künstler, der in ganz Europa, Russland, den USA und Korea ausstellt, hatte die Vorstellung, auf der Rückseite der „Tagelöhner“ ein bestimmtes Bild Kirks zu verwenden und dieses durch eine Hintergrundaufhellung dramatisch herauszuarbeiten. Die Umschlaggestaltung sollte einerseits modern wirken, andererseits aber auch einen Bezug zu der klassisch gewordenen Reihe der Tranebøger des Gyldendal-Verlages herstellen.
Wir standen also vor der Aufgabe, den Rechteinhaber dieses Bildes ausfindig zu machen und stießen so, über verschiedene Kontakte, auf Frau Esther Madsen. Es war Frau Madsens Mutter, Leni Madsen (1914 – 2007), die im Jahre 1941 eine ganze Reihe von Kirk-Photographien schoss. Leni Madsen wiederum war die Frau Carl Madsens, einem führenden und nicht immer unumstrittenen kommunistischen Funktionär und Intellektuellen. Carl Madsen war, wie Kirk, im Kreis um „Clarté“ und „Monde“ aktiv, wurde, ebenfalls wie Kirk, am 23. Juni 1941 inhaftiert und gemeinsam mit Kirk und einer ganzen Reihe anderer Häftlinge gelang ihm am 29. August 1943 die Flucht.
Nach der Befreiung von der deutschen Besatzung arbeitete der als Anwalt ausgebildete Madsen als Staatsanwalt im Klagefall gegen das große Bauunternehmen „Wright, Thomsen & Kier“, das unter dem Vorwurf der Kollaboration stand, da die Firma vom deutschen Besatzer große Bauaufträge für militärische Anlagen angenommen und aufgrund von Sonderbedingungen überproportional daran verdient hatte. Allerdings ließ man sich seinerzeit die Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht von der dänischen Regierung bestätigen, so dass der Prozess bald versandete und nicht wenige meinten: aufgrund von mächtigen Strippenziehern hinter den Kulissen. Im Übrigen wurde der unbequeme Carl Madsen 1948 anlässlich eines Verkehrsdeliktes vom Fall befreit.
Hans Kirk nahm den Prozess zum Anstoß für seine beiden letzten polemischen Romane „Djævelens Penge“ und „Klitgaard og Sønner“, die zugleich Schlüsselromane waren, denn hinter der Firma „Klitgaard“ war für den politisch interessierten Leser „Wright, Thomsen & Kier“ ebenso leicht zu erkennen wie eine ganze Anzahl von Personen des öffentlichen und politischen Lebens, Carl Madsen inklusive.
Das Ehepaar Madsen, so versicherte Frau Esther Madsen, war mit Kirk befreundet. Offensichtlich gefiel ihr unser Enthusiasmus, denn sie gestattete uns nicht nur die Nutzung des besagten Bildes, sondern sandte auch als Geschenk zwei Originalabzüge der 60 Jahre alten Aufnahmen. Andernorts werden die Originale der Serie verkauft. Kirk mit Pfeife ist ein bekanntes, wenn auch seltenes Bild – Werner Thierrys Biographie etwa trägt es auf dem Frontumschlag. Das zweite Bild dürfte – soweit wir wissen – bislang unveröffentlicht sein!
Aber die Bilder sprechen selbst und erzählen eine eigene Geschichte. Sie verraten uns dreierlei: über die Photographin, über Kirk und über Dänemark!
Dass sie mit künstlerischer Ambition aufgenommen wurden, beweist das clevere Spiel von Licht und Schatten, die Proportion und der ferne Blick Kirks. Fast alle Bilder, die Leni Madsen in diesen Tagen – auch von anderen Inhaftierten und von ihrem Mann – aufgenommen hatte, weisen das bewusste In-Szene-setzen auf.
Bedenkt man Zeit und Ort der Aufnahmen – 1941 im Gefängnis Horserød – so überraschen die Offenheit und Positivität: Für einen Inhaftierten der Nazis wirkt Kirk wenig typisch. Das lässt sich nur durch die Haftbedingungen erklären. Nachdem das neutrale Dänemark am 9. April 1940 von den deutschen Truppen besetzt worden war, gab es zwar einen offiziellen Protest der dänischen Regierung, doch wurde der fait accompli akzeptiert; König und Regierung riefen die Bevölkerung zu Ruhe und Besonnenheit auf. Im Gegenzug wurde dem Protektorat offiziell die staatliche Integrität zugesichert und die Zivilverwaltung intakt gelassen. Als am 23. Juni 1941 auf Druck der deutschen Besatzer in einer konzertierten Aktion nahezu die gesamte linke Intellektuellenszene, circa 300 Personen, inhaftiert wurde, da waren dänische Sicherheitsorgane bei der Arbeit, da wurden die Verhafteten in dänische Gefängnisse gesteckt und unter landesüblichen Bedingungen gehalten. Die Verhaftungsaktion könnte sogar eine provisorische Schutzmaßnahme gewesen sein, um die hochgradig gefährdeten politischen Aktivisten aus dem Rampenlicht zu entfernen und die deutschen Behörden durch vorauseilenden Gehorsam zu beruhigen. Die Zeit der Inhaftierung war also nicht nur eine sehr schwere Leidenszeit, in der Kirks politische Radikalisierung ihren Ursprung nahm, sondern auch eine Zeit des regen intellektuellen Austausches, nicht nur zwischen den gemeinsam Inhaftierten, sondern auch mit der Außenwelt. Kirk etwa pflegte eine briefliche Polemik mit den politischen Verantwortlichen, machte immer wieder auf Missstände und Zusammenhänge aufmerksam. Später wurden Teile dieser Briefe als „Breve fra Horserød“ veröffentlicht. Kirk schrieb desweiteren zwei Romane in dieser Zeit: „Slaven“ und den dritten Teil der Tagelöhner-Trilogie. Die Manuskripte musste er bei seiner Flucht zurücklassen – sie gelten seither als verschollen bzw. zerstört. Nach dem Kriege wollte er beide Romane erneut verfassen, fand aber zum Tagelöhner-Roman keine innere Verbindung mehr und so bleibt sein Zentralwerk leider ein Torso.
Wenn man nun Kirk auf diesen beiden Portraits betrachtet, dann fällt seine positive Ausstrahlung aus. Es gibt eine ganze Reihe Bilder, in denen er weit weniger offen schaut.
Vergleicht man mit vorherigen Aufnahmen, so will er fast verjüngt erscheinen und das mag auch daran liegen, dass Kirk offensichtlich deutlich an Gewicht verloren hatte. Leni Madsen hat hier einen attraktiven Mann abgelichtet. Kirks Jacke dürfte wohl die Gefängnisbekleidung sein (vgl. Carl Madsen), der Pullover darunter war vermutlich freie Wahl und ist daher aussagekräftig. Man kann durchaus vermuten, dass Kirk ganz bewusst diesen Fischerpullover im klassischen altdänischen „lus mønstre“ („Lausmuster“) wählte – er signalisiert eine Zugehörigkeit zum „einfachen Volk“, zum Fischer, zum Arbeiter, zum Bauern, aber er könnte, wie auch die Pfeife, die freilich nur selten aus dem Mund nahm, auch eine Referenz an jenes Werk sein, das ihm einen Namen im öffentlichen Leben machte. Die Bilder wollen sagen: Ich bin einer von euch, verwurzelt im dänischen Volk, mindestens aber: Ich bin kein blutleerer Intellektueller. Otto Gelsted berichtete in einem Interview, dass Kirk in seiner Pariser Zeit, wo er als Botschaftsangestellter arbeitete, durchaus ein Faible für adrette Kleidung entwickelt hatte, und auch sonst ist er meist im Anzug abgelichtet. Gelsted erzählte, dass Kirk „elegant wie ein Kavalier aus Paris zurückkehrte, mit wippendem Spazierstock.“ Aber als er zu schreiben begann, so wird aus dem privaten Umfeld berichtet, „legte er sein korrektes City-Dress beiseite und traf mit Schirmmütze und Fischerpullover ein.“[1] Derart bekleidet zog es ihn kurz darauf auch nach Gjøl am Limfjord, wo er als Fischer arbeitete um sich, als Vorbereitung zu „Fiskerne“, einzufühlen in das Leben dieser Menschen.
Unser herzlicher Dank gilt Morten Thing, der den Kontakt herstellte, vor allem aber Frau Esther Madsen!